Erste Hilfe bei psychischen Erkrankungen
Psychische Erkrankungen sind – statistisch gesehen – alltäglich. Das Wissen über diese Erkrankungen jedoch nicht. Ebenso der Umgang mit Betroffenen. Im Interview mit der Psychologin und Mental Health First Aid (MHFA) Instruktorin Kerstin Bodensiek-Kleine hat IhreApotheken.de darüber gesprochen, was das für Apotheken bedeutet, wie man sich selbst psychisch fit hält, vor zu viel Nähe bei gleichzeitiger Anteilnahme schützt und warum jeder Erste Hilfe bei psychischen Problemen leisten können sollte. Diesem Thema hat sich das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim in Partnerschaft mit der Beisheim Stiftung mit der Umsetzung des MHFA, einem aus Australien stammenden, weltweit erfolgreichen Programm zur Schulung von Erste-Hilfe-Maßnahmen bei psychischen Störungen angenommen hat.
Jeder vierte Erwachsene in Deutschland erfüllt die Kriterien einer vollausgeprägten psychischen Erkrankung. Damit kommt eine mentale Gesundheitsstörung bei Erwachsenen in Deutschland genauso häufig vor wie Bluthochdruck. Jedoch wurden psychische Störungen lange tabuisiert. In den letzten Jahren steigt die Inanspruchnahme von therapeutischen Maßnahmen und weiteren Hilfsangeboten. Und auch im gesellschaftlichen Kontext werden die Erkrankungen öffentlicher behandelt, beispielsweise sprechen auch immer mehr Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, über psychische Gesundheitsprobleme. „Ich bin ein positiver Mensch und finde es haben sich schon viele Dinge positiv verändert.“, sagt die Psychologin und MHFA-Instruktorin der ersten Stunde über den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen. „Natürlich sind wir noch nicht da angekommen, wo wir hinwollen. Dass das Thema polarisiert, spüre ich auch“, gibt die Kursleiterin zu. Denn viele Menschen trauen sich auch heute noch nicht über ihre psychischen Probleme zu sprechen. „Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass die Menschen so wenig über die Erkrankungen wissen. Denn diese sind so wenig greifbar.“, so Bodensiek-Kleine. Durch das fehlende Wissen zu den Erkrankungen entstehe Stigmatisierung, weshalb es so wichtig sei Wissen zu vermitteln.
Das Erste Hilfe einen entscheidenden Unterschied machen kann, ist bei körperlichen Verletzungen ganz selbstverständlich. Und dabei muss es gar nicht unbedingt ein Druckverband sein, der letztendlich vielleicht vor dem Verbluten schützt, sondern in den meisten Fällen ist es viel mehr die reine Anwesenheit, das gute Zureden und das „Um-Einen-Kümmern“, das den entscheidenden Unterschied für den Betroffenen macht. Gleiches gilt auch bei psychischen Erkrankungen. Wie man Erste Hilfe bei psychischen Gesundheitsproblemen leistet, darum geht es bei den MHFA Ersthelfer-Kursen. „Nach der Teilnahme am MHFA-Kurs sollen Teilnehmer in der Lage sein mit Menschen umzugehen, ihnen beizustehen und sie zu begleiten, die eine psychische Erkrankung haben“, erklärt Bodensiek-Kleine. „ Es geht nicht darum jemanden zu heilen, sondern in der Lage sein zu können einem Betroffenen beistehen zu können, ein, zwei Tipps zu kennen, um der Person direkt zu helfen und vor allem dabei zu unterstützen professionelle Hilfe zu erhalten.“
Die Berührungspunkte mit der Apotheke sind hoch, betrachtet man die Anzahl der erkrankten Menschen. Daher sei es wichtig sich eingehend mit dem Thema zu beschäftigen, findet die MHFA-Instruktorin: „Alleine das Wissen kann einen enormen Unterschied machen. Zu wissen, dass beispielsweise Schlafstörungen auch das Symptom verschiedener psychischer Erkrankungen sind, kann mir dabei helfen, die Person vor mir besser zu beraten.“ Eine gewisse Hemmschwelle eine Kundin oder einen Kunden bei einem Verdacht anzusprechen, sei verständlich. Schließlich sei der Rahmen doch etwas anders als in der Familie, unter Freunden oder Arbeitskollegen. „Man hat im Zweifel auch nicht so viele Möglichkeiten, die Person über einen Zeitraum zu beobachten. Wenn aber jemand immer wieder in die Apotheke kommt und zum Beispiel immer wieder Mittel gegen Schlafstörungen kauft, kann man das entstehende Vertrauensverhältnis nutzen, um den Kunden aktiv anzusprechen.“, so die Expertin. Eine Möglichkeit sei, die Thematik in die Beratung zu integrieren und darauf Aufmerksam zu machen, dass es mehrere Gründe für die offensichtlich anhaltende Symptomatik geben kann. „Es ist wichtig, dass einfach mal anzusprechen und dem Kunden damit die Möglichkeit zu geben, überhaupt in diese Richtung zu denken.“ Zusätzlich seien Flyer oder Faltblätter, die es von verschiedenen Organisationen gibt, eine gute Möglichkeit diskret auf das Thema einzugehen.
In der Apotheke mitzudenken sei jedoch von enormer Wichtigkeit. „Früherkennung ist das A und O. Bei fast allen Störungsbildern gilt, je früher wir sie behandeln lassen, umso besser sind die Ergebnisse“, erklärt Bodensiek-Kleine. Die Unterschiede zwischen früh und lange nicht behandelten psychischen Erkrankungen seien schon sehr deutlich. Denn die Verschleppung eines psychischen Problems eröffne in der Regel einen Kreislauf, der häufig weitere Erkrankungen mit sich ziehe. „Personen mit Depressionen oder Angststörungen, die nicht behandelt werden, rutschen oft in den Bereich des Substanzmissbrauchs, z.B. einem übermäßigen Alkoholkonsum, weil sie so versuchen damit umzugehen.“ Daraus entwickle sich dann wiederum ein Problem, zum Beispiel auf der Arbeit. Schnell wird so aus einem Menschen mit einer Depression, ein Mensch mit einer Depression, einem Alkoholproblem und Arbeitslosigkeit. „Durch die Früherkennung kann auch präventiv daran gearbeitet werden, dass keine weiteren Probleme entstehen“, verdeutlicht die Psychologin.
Wichtig sei neben der Aneignung von Wissen und der aktiven Ansprache der Thematik auch der eigene Umgang damit. „Man muss verstehen, dass man nicht allen Menschen helfen kann und das auch nicht jeder meine Hilfe möchte“, räumt Bodensiek-Kleine ein. „Aber man weiß auch immer nicht welchen Samen man säht.“ Man könne schließlich nicht wissen, ob sich der Betroffene nach der Ansprache in der Apotheke vielleicht an anderer Stelle Hilfe suche.
Im Umgang mit Betroffenen sei es zudem wichtig an die eigene Selbstfürsorge zu denken. „Erste Hilfe zu leisten, kann mitunter dazu führen, dass man sich selbst erschöpft fühlt, ausgelaugt oder hilflos ist, wenn jemand die Hilfe zum Beispiel nicht annehmen wollte. Und natürlich macht das auch etwas mit einem selbst“, erklärt die Kursleiterin, die das Gefühl auch selbst kennt: „Obwohl ich Psychologin bin, war ich auch schon in der Situation, dass ich nicht wusste, ob ich im Umgang mit einer suizidalen Person richtig reagiert habe. Ich finde es wichtig sich dann, egal, welche Position man hat, selbst Hilfe zu holen. Bei mir war es ein Telefonat mit einer Hilfsstelle, bei der ich meine Sorgen mit einer ebenfalls geschulten Person besprechen konnte.“ Gleiches empfiehlt sie auch Personen, die Erste Hilfe bei psychischen Problemen geleistet haben und die die Situation immer noch beschäftige. Zudem sei es wichtig sich einfach mal etwas Gutes zu tun und zu überlegen, was man gerade brauche: „Das kann ein Spaziergang sein, eine Pause und ein Glas Tee, um einfach nochmal zu sich zu kommen und sich nochmal alles bewusst zu machen, aber auch um sich abzugrenzen. Denn man muss sich immer wieder verdeutlichen `Das was ich tue, tue ich und darüber hinaus gebe ich es an Experten ab.´“ Bestandteil des MHFA-Kurses ist auch die Selbstfürsorge für die eigene mentale Gesundheit und den Umgang mit Erste-Hilfe-Situationen.
Weitere Inhalte des MHFA-Ersthelferkurses sind die Wissensvermittlung zu den häufigsten auftretenden Krankheiten, wie Depressionen, Angststörungen, Suizidalität, Psychosen und Substanzmissbrauch. „In den zwölf Stunden des Kurses konzentrieren wir uns auf die häufigsten psychischen Krankheiten“, erklärt Bodensiek-Kleine. Weitere Krankheitsbilder und Informationen finden Teilnehmer auch nach dem Kurs ausgehändigten Handbuch. Die gelehrten Maßnahmen und Methoden können jedoch bei jeder Art von psychischer Erkrankung angewendet werden. Kerstin Bodensiek-Kleine erklärt: „Hat eine Person eine psychische Erkrankung, die nicht im Kurs besprochen wurde, können trotzdem die Erste-Hilfe-Maßnahmen, die im Kurs gelehrt werden, angewendet werden.
Für Apothekenteams empfiehlt Kerstin Bodensiek-Kleine einen MHFA-Gruppenkurs, der individuell angefragt werden kann: „So entsteht auch ein Mehrwert, weil alle Personen im Team das Wissen haben und man damit nicht allein ist. So kann man sich austauschen und gegenseitig unterstützen.“ Der Kurs kann vor Ort, aber auch im Online-Format durchgeführt werden und dauert 6x 2 Stunden.
Weitere Informationen und Termine bei Kerstin Bodensiek-Kleine lassen sich über www.bodensiek-kleine.de/erstehilfekurs finden oder auf der offiziellen Website der MHFA-Ersthelfer unter https://www.mhfa-ersthelfer.de/.
Für Ihre Kunden und selbst zum weiterlesen finden Sie Informationen rund um das Thema Psychische Gesundheit auf IhreApotheken.de
Über die Interviewpartnerin
Kerstin Bodensiek-Kleine absolvierte ein Psychologiestudium mit den Schwerpunkten Klinische Psychologie und Pädagogische Psychologie. Bereits während des Studiums begann Sie eine Ausbildung zur lösungsfokussierten und systemischen Beraterin, um im direkten Kontakt zu Kunden besser unterstützen zu können. Zudem ist sie dvct-zertifizierte Business-Trainerin und MHFA-Tutorin.